Natürlich könnte man auch im Winter durch das Watt wandern. Aber wer möchte sich schon Frostbeulen im Nationalpark und UNESCO-Weltnaturerbe holen? Die Temperaturen steigen, die Sonne steht lange strahlend am Himmel. Also ziehen sie wieder los, die Borkumer Wattführer Albertus Akkermann, Berend „Tüte“ Baalmann, Peter de Buhr, Wilfried Krahwinkel, Nils Nörtemann und Heinrich „Heini“ Poppinga. Die Saison der Wattwanderer beginnt.

Zweimal am Tag wird der Arbeitsplatz überflutet  

Treu sind sie der Insel, die Chefs des Wattenmeeres. Mit ihren langen roten Beinen laufen sie über das Watt, mit ihren geformten Schnäbeln knacken sie Muscheln und jagen nach Würmern. Die laut trillernden Austernfischer sind gesellige Tiere. Sie begrüßen die morgendlichen Besucher des Watts.  Doch der Wattführer lässt keinen Zweifel aufkommen, wer ab jetzt Chef der 25 Wanderer ist, die unter seiner Führung die nächsten zwei Stunden das Watt im Osten der Nordseeinsel Borkum erkunden wollen. Er übernimmt lautstark das Kommando. Er betritt mit den Wattwanderern einen außerordentlich sensiblen maritimen Lebensraum, in den man nur mit dafür speziell ausgebildeten und staatlich lizensierten Wattführern eintreten darf. Diese Insel ist seine Heimat, hier ist er groß geworden, hier lebt er mit seiner Familie und hier praktiziert er Umwelt- und Naturschutz. 

Viel gibt es für ihn zu erzählen und dafür erwartet er die ganze Aufmerksamkeit der Wattwanderer heute Morgen. Schon zu Beginn ordnet er seine Gäste: „Die Lütten müssen nach vorn, altersunabhängig. Auffallend viele Kinder sind unter seinen 25 Gästen. Sie stellen sich in die erste Reihe. Er führt seine Besucher in ein geheimnisvolles Gebiet von Land und Wasser, von Prielen und Strömen, von Salzwiesen und Muschelbänken. Er führt sie in einen Teil des Meeres, der in seiner Art einzigartig ist – das Wattenmeer der Nordsee. Peter macht schnell allen seinen Gästen klar, dass dieses Wattenmeer ein sehr schwieriger Lebensraum sei. Nach dem tropischen Regenwald Brasiliens ist dieses Stück Land und Wasser das produktivste Ökosystem unserer Erde. Wenn man nur einen Kubikmeter dieses Grundes herausnähme, fände sich darin die Biomasse von Tausenden Lebensformen. Muscheln, Würmer, Bakterien, Algen, Schnecken, Fische und viele mehr haben hier ihre Existenzgrundlage gefunden.

In diese Schatzkammer der Natur führt der Wattführer seine Gäste. Kein Mensch ist weit und breit zu sehen. Nur zwei holländische Plattbodenschiffe haben sich im Watt trockenfallen lassen. „Nicht schlimm“, meint er. Schlimm sei es nur, wenn kein Bier an Bord wäre. Salzwasser reiche da nicht. Kann denn eine Pflanze von Salzwasser leben? Die Antwort bekommen die Gäste jetzt hautnah, vor ihnen liegt eine große Fläche von hellsilbern glänzenden Pflanzen. Es ist der Strandwermut, der hier in den Salzwiesen am Rande des Watts seine idealen Lebensbedingungen gefunden hat. Die Menschen an der Nordsee nutzen diese Pflanze seit Jahrhunderten zur Bereitung von Heiltee gegen Kreislauf- und Darmbeschwerden. Und bitter schmeckt die Blüte, die im August die Salzwiesen silbern färbt. Bitter wie der Wermutstropfen, der die unangenehme Nachricht für einen Verehrer übermittelt, dessen Geliebte schon vergeben und er deswegen zu spät kommt. Deutlich zeigt der Wattführer die Zonen, in denen im sechsstündigen Rhythmus das Land überschwemmt wird. Direkt am Watt gedeihen die Pflanzen, die zweimal pro Tag im Salzwasser ertrinken und am Rande die Flora, die nur höchstens zehnmal Mal jährlich diese Überschwemmung zum Gedeihen braucht. Die Natur ist so perfekt in ihrer Organisation.

Vor einer kleinen von der Natur geschaffenen „Treppe“ gibt der Wattführer seinen Mitwanderern das Signal zum Einhalt.  Hier beginnt das eigentliche Watt. Alle Schuhe sind ausgezogen, die langen Jeans hochgekrempelt und die Mütter halten ihre Kinder an der Hand. Denn jetzt wird es rutschig. Vor wenigen Stunden noch vollständig überflutet, liegt jetzt vor ihnen eine nasse und in der Morgensonne glitzernde Fläche trocken gefallenen Meeresgrunds. Das Wattenmeer, die Kinderstube der Plattfische wie Scholle, Seezunge und Steinbutt, wird heute zur Lehrstube für die Menschenkinder. Die Wattführer möchten, dass sie lernen, dass Fisch nicht in Kühltruhen wächst. Er erklärt komplizierte Zusammenhänge mit großem Fachwissen, locker und leicht verständlich. Auf der Höhe vom Hopp, dem Priel, an dem vor Jahrhunderten an der Wattenseite der Insel die Schiffe fast bis an den alten Leuchtturm im Zentrum Borkums vor Anker gingen, zeichnet er mit der Forke einen großen Kreis in den nassen Untergrund. Jeder seiner morgendlichen Mitwanderer soll nun fünf geschlossene kleine Herzmuscheln sammeln und in den Kreis legen. Diese Muscheln leben. Eingeschlossen in ihren zerbrechlichen Panzern zeigt der Wattführer, wie sie in wenigen Minuten anfangen, sich der prallen Sonne zu entziehen. Eine nach der anderen gräbt sich schnell wieder in den weichen Untergrund und verschwindet in die Sicherheit. Die jungen Gäste erkennen sehr schnell, dass es nicht sinnvoll ist, lebende Muscheln einzusammeln, um sie in Plastikeimern nach Hause zu schleppen und dann in der Ferienwohnung auf der Fensterbank trocknen zu lassen. Zum einen stinkt das abscheulich und zum anderen sind diese geschlossenen Muscheln lebende Wesen, die es zu schützen gilt. „Schaut sie Euch an, untersucht sie“, fordert der Wattführer sie auf, „aber lasst sie zurück ins Wasser“. 

Die Wattwanderer und die Borkum-Muschel

Die Borkum-Muschel

Ob es nun Seemannsgarn oder wissenschaftlich fundierte Information ist, weiß keiner der Wattwanderer so richtig, als die Gäste die Borkum-Muschel im Watt finden. Die Große Sandklaffmuschel ist groß, schön und weiß. In 20 Zentimeter Tiefe eingegraben hat sie kaum natürliche Feinde und wird nur von Krebsen und Vögeln gefressen, wenn sie freigespült wird. Sie hatte bisher einen abenteuerlichen Weg hinter sich. Lange bevor Christoffer Columbus Amerika entdeckte, sollen bereits die Wikinger dort gewesen sein. Da die Sandklaffmuschel sehr schmackhaft ist, haben sie die Wikinger als lebenden Proviant auf die Heimreise mitgenommen. Auf diesem Wege sei die Muschel, die nach der letzten Eiszeit nur in den Regionen der amerikanischen Ostküste heimisch war, in die Nordsee und nach Borkum gekommen. Wattführergarn oder nicht – auf der Innenfläche jeder Muschel sind die Umrisse der Insel Borkum zu sehen – klar und deutlich. Die Nährstoffe von sieben bis acht Litern Wasser braucht die Muschel täglich zum  Überleben. „Wie ein Kasten Bier“, ergänzt aber einschränkend: „Das geht, aber nicht täglich.“ Der Wattführer bringt die ausgegrabenen Muscheln immer wieder zurück. Fast schon liebevoll setzt er sie zurück in den Schlick und deckt sie sorgfältig ab. Großen Respekt hat er vor der Natur und ihren Lebewesen.

Der Die Wattwanderer und der Wattwurm

Der Lebensraum des Wattwurms

Und noch einen Freund stellt der Wattführer seinen Gästen vor, den Wattwurm. Er lebt in 20 Zentimeter tiefen kanalähnlichen Röhren, die er sich in U-Form in den Sand des Watts gräbt. Er frisst Sand und filtert die Nährstoffe aus ihr heraus, von denen er lebt. Im Abstand von knapp einer Stunde kommt er am Eingang seiner Röhre an die Oberfläche und scheidet den vertilgten Sand aus, leicht erkennbar an einem spaghettiähnlichen Haufen.

Der Wattführer gräbt einen Wattwurm aus und legt das regewurmartige Tier in die Hände der achtjährigen Simone. Sie hat keine Angst vor dem kleinen Tier und bestaunt es mit großen Augen. Jetzt aber beginnt die gefährliche Zeit für den kleinen Wurm. Weil er sich tief eingräbt, kann er nur das Opfer der hungrigen Austernfischer oder der Möwen werden, wenn er an der Oberfläche auftaucht. 

Der Beruf des Wattführers

Der Wattführer Peter de Buhr zeigt die Gefahren des Watt

Alle Wattführer liebt ihren Beruf offenkundig. Welcher andere Arbeitsplatz wird auch schon zweimal täglich überflutet? Es ist ein langer Ausbildungsweg, bis man mit Gästen in das Watt hinaus darf. Die Sicherheitsvorschriften muss er kennen und er muss Ortskenntnis im betreffenden Wattgebiet nachweisen. Wetterkunde, Kompasskunde und Navigation mit einer Seekarte muss er beherrschen.  Und der Prüfungskommission des Umweltministeriums der niedersächsischen Landesregierung – bestehend aus erfahrenen Wattführern, Mitgliedern des Nationalparks Wattenmeer und der Wasserschutzpolizei – muss er botanisches und ornithologisches Fachwissen nachweisen. Hat man all das absolviert wird man von der Landesregierung zum „Nationalpark-Wattführer“ ernannt worden.  Denn das Wattenmeer ist kein Spielplatz. Die sich möglicherweise schnell ändernden Wetterverhältnisse mit Seenebel oder Gewittern verlangen neben Erfahrung eine komplette Ausrüstung. Auf seinem Rücken trägt er einen Rucksack, der seinen Namen und das Zeichen des Nationalparks Wattenmeer trägt. Wichtiger für seine Sicherheit und die seiner Kunden ist allerdings der Inhalt. Ein 30 Meter langes Rettungsseil, ein Kompass, die Erste-Hilfe-Ausrüstung, Uhr, Trillerpfeife, wasserfest laminierte Karten, Fernglas, Notsignal und Handy sind absolute Pflichtausstattung. Sollte z.B. plötzlich einfallender Seenebel den Wattwanderern die Sicht versperren, legt sich der Wattführer die Rettungsleine um den Bauch, alle seine Gäste halten die Leine fest und die Ortskenntnis und die Erfahrung ihres Wattführers bringen die Wanderer sicher an Land.

Das Wattenmeer ist kein Spielplatz. Das zeigen deutlich jedes Jahr wieder neue Todesopfer von Wanderern, die sich ohne Hilfe von Wattführern auf das bei Niedrigwasser freigelegte Land wagen. Priele mäandern durch die Wattfläche. Ihre Wassertiefe ist schwer einzuschätzen und sie können eine große Gefahr für ortsunkundige Wanderer sein. Die wie kleine Flüsschen scheinenden Priele füllen sich bei Flut rasch auf und danach breiten sich die Wassermassen schnell auf den flachen Wattflächen aus. Hinzu kommt, dass am Rand von Prielen das Wasser bei Ebbe langsamer abläuft und sich daher tiefer und gefährlicher Schlick ablagert. Sollten Wanderer von der zügig auflaufenden Flut überrascht werden, stehen sie oft vor unüberwindbar tiefen und stark strömenden Prielen. Gelingt es ihnen, diese zu überwinden, können sie schnell – in Sichtweite des rettenden Landes – knietief im weichen Morast des Schlicks versinken. Der Grund für diese Unvorsichtigkeit liegt häufig in einer völligen Fehleinschätzung der Tiden. Die Tide beginnt mit dem berechneten Zeitpunkt des Niedrigwassers, ablesbar in allen Gezeiten- oder Tidenkalendern. Nun beginnt der Zeitraum der Flut bis zum errechneten Zeitpunkt des Hochwassers. Danach beginnt der Zeitraum der Ebbe, wiederum bis zum Zeitpunkt des Niedrigwassers.  Jeder dieser Zeiträume dauert ca. sechs Stunden. Viele Wanderer, die sich nicht auf die Erfahrung von Wattführern verlassen wollen, verwechseln aber z.B. Hochwasser mit Flut. Hochwasser sei ja erst in sechs Stunden, dass aber das auflaufende Wasser der Flut ihnen bereits den Weg zum rettenden Festland abschneiden kann, übersehen viele Wanderer.

Wattführer Albertus Akkermann zeigt wo es langgeht, und wo besser nicht

Und deswegen gilt nur mit einem Wattführer hinauszugehen. Auf allen Nordseeinseln und an der Küste gibt es viele erfahrene Kollegen, die den Wanderern Sicherheit gewährleisten. Viele Besucher kommen zu ihnen, manche von ihnen jedes Jahr wieder. Das Wattenmeer lohnt einen Besuch zu jeder Jahreszeit, auch im Herbst und im Winter. Immer ist es anders und bietet spannende Einblicke in dieses Naturwunder. Das erfuhr auch eine Gruppe vornehmer Banker. Eigentlich wollte keiner von ihnen bei Windstärke 11 hinaus ins Watt. Der Sturm riss an ihrer Kleidung, die sie gegen die üblichen seriösen blauen Büroanzüge getauscht hatten. Sie lernten einen Lebensraum kennen, der ihnen bisher völlig fremd war. Und sie waren begeistert von dieser extremen Erfahrung. Bei heißem Grog und Glühwein nach der Wanderung mochte keiner von ihnen dieses herrliche Naturerlebnis mehr missen. Professoren kommen gerne mit ihren Studentinnen und Studenten zu dieser Jahreszeit und die vielen Borkumer Gäste in den Kliniken wissen diese einzigartige Abwechslung ebenfalls sehr zu schätzen.  Die Borkumer Wattführerverschaffen ihnen das große Vergnügen, eines der schönsten und abwechslungsreichsten Naturräume dieses Planeten vorzustellen: das Wattenmeer. ++++wes/25.03.2023

Die Saison der Wattwanderer beginnt

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